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Autorin Susanne Eisele

Kurzgeschichte - Dornröschens Erweckung

Die andere Geschichte von der Erweckung Dornröschens

Puh, endlich geschafft! Prinz Richard wischte sich den Schweiß vom Gesicht, dann betrachtete er missbilligend seine Handschuhe. Obwohl diese aus dickem Leder gefertigt waren, hatten sie doch ziemlich unter dieser schrecklichen Dornenhecke gelitten, durch die er sich durchgekämpft hatte. Gut, dass sein treuer Knappe den Großteil des Gestrüpps mit seinem Schwert niedergemetzelt hatte, bevor er selbst den so geschaffenen Durchgang für sich vergrößert hatte, sonst würde er womöglich so zerkratzt aussehen wie der Junge. Unvorstellbar!
Dennoch hatte die Kleidung des Prinzen ein wenig unter den Dornen gelitten. Kurz überlegte er, ob er in den Truhen nach unbeschädigter Kleidung suchen sollte. In so einem Schloss sollte es schließlich genügend angemessene Textilien geben. Dann fiel ihm ein, dass die Prinzessin, die er wachküssen wollte, ja bereits seit einhundert Jahren schlafen sollte, ebenso wie der gesamte Hofstaat. Demnach wäre auch die hier vorzufindende Garderobe bereits mindestens hundert Jahre alt und völlig unmodern. Nein, dann lieber mit Würde ein paar herausgezogene Fäden. Man durfte ihm schließlich auch die Mühe ansehen, die es ihn gekostet hatte bis zur Königstochter vorzudringen.
Apropos Königstochter, wo genau würde er diese wohl finden? Er sah sich in dem Raum um, zu dem er sich durchgekämpft hatte. Hier gab es keine Dornen, dafür umso mehr Spinnweben. Diese hingen mitunter so dicht, dass kaum Tageslicht hereinfiel.
„Bahne er mir einen Weg zum Bett der Prinzessin“, befahl er daher seinem Knappen, der heftig atmend hinter ihm stand.
Sofort machte sich dieser ans Werk und sammelte mit Schwert und Händen so viele Gespinste ein wie möglich. Kurze Zeit später waren Prinz und Knappe bei einem großen Himmelbett angelangt. Die Vorhänge, der Baldachin und die Bettwäsche mochten einmal die Farbe von moosigem Grün gehabt haben, waren jedoch so mit Spinnweben überzogen, dass sie eher grau-grün wirkten. Prinz Richard warf einen Blick auf das Bett. Dort lag sie, die verwunschene Prinzessin. Wahrscheinlich war sie recht hübsch, leider konnte man das durch die vielen Gespinste hindurch nicht mit letzter Sicherheit sagen.
In Gedanken ging der Prinz nochmals die Anweisung durch, die er erhalten hatte: Durch die Hecke kämpfen – erledigt. Die Prinzessin finden – erledigt. Die Prinzessin durch einen Kuss auf den Mund erwecken, dann würde auch der Hofstaat aufwachen und er mit der holden Maid vermählt werden. So konnte er als vierter Sohn eines Königs sein eigenes Königreich erhalten. Gut erstmal würde er Kronprinz werden, aber das war mehr, als er im Reich seines Vaters werden konnte. Wo war er stehengeblieben? Ach ja – die Prinzessin wachküssen.
Er beugte sich in Richtung der Königstochter herunter und erstarrte. War das eben eine Spinne gewesen, die da über das Gesicht der Maid gehuscht war? Entsetzt richtete er sich wieder auf.
„Knappe, befreie er das Gesicht der Prinzessin von diesen unsäglichen Spinnenfäden“, wandte er sich erneut an seinen jungen Begleiter.
Dieser verdrehte hinter dem Rücken seines Herrn kurz die Augen, machte sich dann aber gehorsam daran, das Gesicht der jungen Frau von den Gespinsten zu befreien. Dabei hoffte er, dass er deren zarte Haut nicht durch seine rauen, von den Dornen aufgerissenen Hände beschädigte oder sie mit seinem Blut beschmierte. Er war daher sehr vorsichtig, weshalb er einige Zeit benötigte, um die Königstochter soweit zu säubern, dass sein Herr sie küssen konnte. Dieser begann bereits unruhig zu werden.
Schließlich richtete sich der Knappe auf. „Säuberer bekomme ich die Prinzessin nicht, ohne Wasser und saubere Lappen.“
„Waschen lassen kann sie sich später von ihrer Zofe, die sollte ja auch mit aufwachen“, knurrte der Prinz ungehalten. „Für einen Kuss muss es so ausreichen.“
Er beugte sich erneut zur Königstochter herunter und fuhr mit einem Entsetzensschrei wieder hoch, als erneut eine Spinne über das liebliche Gesicht spazierte. Direkt über die Lippen, die er gerade im Begriff war zu küssen. Er wollte ja wirklich gerne Kronprinz werden, aber dafür Lippen küssen, die gerade durch eine Spinne verunreinigt worden waren – Nein, das ging entschieden zu weit. Aber welche Möglichkeit hatte er sonst?
Nach kurzer Überlegung hellte sich sein Gesicht auf. „Knappe, du küsst die Prinzessin auf den Mund. Dann trittst du zur Seite, damit sie nach der Erwachen mich sieht. Sollte sie fragen, so habe natürlich ich sie geküsst.“ Stolz auf seinen brillanten Einfall machte er dem jungen Mann gerade genug Platz, damit dieser sich herunterbeugen und die Prinzessin küssen konnte.
Im Gegensatz zum Prinzen sah der Knappe nur das schöne Antlitz der Königstochter, die Spinne nahm er gar nicht wahr. Selbst wenn, hätte er sich nicht daran gestört.
Er schloss die Augen und senkte seine Lippen auf die der Prinzessin. Sanft berührte er so die weiche Haut der jungen Frau. Ob dies ausreichte? Die Antwort erhielt er sofort, als sich plötzlich die Arme der Königstochter um seinen Hals und Kopf schlangen und sie mit ungeahnter Kraft seine Lippen stärker auf die ihren drückte. Kurz dachte er noch an Flucht, als er die Zungenspitze der Prinzessin an seinen Lippen spürte, dann übermannte ihn die Leidenschaft und er erwiderte den Kuss, genoss das begierige Spiel ihrer Zungen. Dass Prinz Richard neben ihm erst empört nach Luft schnappte und dann versuchte, ihn an den Schultern von der Prinzessin weg zu ziehen, bekam er gar nicht wirklich mit.
So kam es, dass die Prinzessin den Knappen heiratete und Prinz Richard sich einen neuen Knappen sowie eine neue Lebensaufgabe suchen musste.

Bild ist von Pixabay